Die Geschichten der Melody Moonchild – Story 4

Melody Moonchild & die Rose

Ganz früh am Morgen schlüpfte Melody Moonchild aus dem Bett.
Die Sonne lugte gerade eben so über den Horizont.
Draußen war es nicht mehr dunkel aber auch noch nicht hell.
Schnell zog sich Melody eine warme Jacke über den Schlafanzug. Sie schlich die knarrende Treppe nach unten. Ganz leise, so dass sie ihre Eltern nicht weckte.
Sie öffnete die Haustür.
Und schon stand sie im Garten. Atmete die kalte Morgenluft ein. Schaute sich um.
Mit welcher Pflanze würde sie heute sprechen?

Melody legte das silberne Kettchen mit dem dunkelblauen Schmetterling-Amulett um.
Ihr kleines Herz klopfte vor Vorfreude.
Ob es wirklich funktionieren würde?
Sie zwinkerte ihrem Freund, dem Kastanienbaum, zu. Aber der schien noch zu schlafen.
Schlafen Bäume?, fragte sich Melody. Na, wahrscheinlich schon, nach so einer aufregenden Nacht wie gestern.
Melody drehte sich auf den Zehenspitzen – wie eine Ballerina – im Kreis und schaute sich die Pflanzen im Garten an.

Vielleicht mit dem Apfelbaum sprechen?
Oder mit der Hecke am Zaun?
Mit dem Gras vielleicht? Das waren ja auch Pflanzen.
Dann blieb Melodys Blick an Mamas Rosengarten hängen.
Eine der Rosen, eine schöne dunkelrote mit langem Stiel und funkelnden Dornen, schien sie anzuschauen.
Also gut, dachte Melody. Mal schauen, ob es funktioniert.
Melody war sehr aufgeregt.
Bis gestern Nacht hatte sie gar nicht gewusst, dass man mit Pflanzen sprechen kann.
Und jetzt ging sie schon selbst auf Entdeckungsreise…

Melody stand vor der Rose.
Wunderschön, wie die Rose ihre Blätter aufgefächert hatte.
Melody näherte ihr Näschen und genoss den Duft der Rose.
Dann setzte sie sich ins weiche Gras und schaute die Rose an.
Was jetzt?
Geduld und Stille, hatte die Kastanie gestern Nacht gesagt.

„Hallo, Rose“, flüsterte Melody.
Aber dann fiel ihr ein, dass man mit Pflanzen in Gedanken redet.
Also nochmal:
„Hallo, Rose“, diesmal in Gedanken.
Aber die Rose antwortete nicht.
Melody war enttäuscht.
„HALLO ROSE!“ Ihre Stimme wurde jetzt lauter, natürlich nur in Gedanken.
Aber wieder keine Antwort.
Traurig stand Melody auf. Es funktionierte nicht. Schade…
Melody lief wieder zum Haus.
„Gibst du immer so schnell auf?“
Melody drehte sich erschrocken um.
„Warst du das, Rose?“
„Klar“, antwortete die Rose in Gedanken.
Schnell trippelte Melody wieder zur Rose. Setzte sich wieder ins Gras und lächelte die wunderschöne rote Rose an.

MELODY: Guten Morgen, liebe Rose.
ROSE: Guten Morgen, Melody. Wie ich sehe, hast du den magischen Anhänger gefunden…
MELODY: Ja, die Kastanie hat ihn mir geschenkt.
ROSE: Hast du dich bei ihr bedankt?
MELODY: Natürlich!
ROSE: Wie kann ich dir helfen an diesem wunderschönen Morgen, liebe Melody?
MELODY: Na ja, wir haben jetzt keine Schule. Vielleicht kannst du mir was beibringen?
ROSE: Du möchtest eine Rose als Lehrerin?
MELODY: Ja, das wäre fein…
ROSE: Weißt du, Melody, dass es uns Pflanzen Spaß macht, euch zu helfen?
MELODY: Echt?
ROSE: Ja, natürlich. Aber ihr Menschen fragt uns ja leider nie. Ihr denkt wahrscheinlich, wir sind einfach nur dumme Pflanzen.
MELODY: Ich denke das nicht!
ROSE: Ich weiß…

Und dann begann die erste Lektion, die erste Rosen-Schulstunde, sozusagen…
Wenn jemand Melody vor einer Woche gesagt hätte, dass sie sich mit einer Rose unterhalten würde. Dass die Rose sogar ihre Lehrerin sein würde. Was hätte sie gelacht.
„So ein Blödsinn“, hätte sie gesagt.
Aber jetzt, auf einmal, passierte es.
Einfach so…

„Setz‘ dich ganz gemütlich hin und schließ‘ die Augen, Melody“, sagte die Rose.
Ihre Stimme war sehr freundlich und sehr sanft.
Melody machte es sich im Gras so richtig gemütlich.
„Jetzt schließ‘ die Augen und leg‘ deine Hände auf die Knie.“
Melody saß im Schneidersitz und legte ihre Hände auf die Knie.
„Hast du schon einmal meditiert?“, fragte die Rose.
„Medikiert?“, fragte Melody.
„Nein“, lachte die Rose. „Meditiert.“
„Nee, kenn‘ ich nicht“, sagte Melody in Gedanken.
„Also los“, flüsterte die Rose.

Und die Rose führte Melody durch ihre erste echte Meditation:
Augen geschlossen lassen (das fiel Melody besonders schwer).
Tief und ruhig einatmen. In den Bauch.
Dann wieder ausatmen.
Nicht zu schnell.
Und nur noch auf den Atem konzentrieren.
Einatmen.
Ausatmen.
Einatmen.
Ausatmen.
„Kommen Gedanken in deinem Kopf?“, fragte die Rose.
„Ja“, sagte Melody. „Ganz schön viele…“
„Welche denn?“, fragte die Rose.
„Na, das Quarantäne-Dingsbums. Dass ich nicht mit meinen Freunden spielen kann. Was ist eigentlich ein Virus? Und so Sachen…“
„Dann stell‘ dir jetzt vor, dass die Gedanken wie Wolken sind“, schlug die Rose vor. „Und lass‘ sie einfach vorbei ziehen. Schau sie an und lass sie los.“
Es dauerte eine kleine Weile, bis Melody es schaffte. Aber dann konnte sie aus jedem Gedanken eine kleine Wolke zaubern und sie vorbei ziehen lassen.

So saß Melody fast zehn Minuten bei der Rose im Gras.
Ihre allererste Meditation.
Schließlich sagte die Rose:
„Das reicht, liebe Melody. Genug meditiert für heute.“
Melody öffnete die Augen.
Die Sonne war jetzt schon ein bisschen aufgegangen, und ihre Strahlen wärmten Melodys nackte Füße.
„Wie geht es dir jetzt?“, fragte die Rose.
„Ich bin ganz ruhig, ganz friedlich“, sagte Melody. „Und die Gedanken wegen dem Quarantäne-Dings sind alle weg.“
Die Rose lachte fröhlich: „Genau so soll das sein.“
„Danke, liebe Rose“, sagte Melody.
„Gerne“, sagte die Rose. „Schau‘ an, es gibt noch Menschen, die Danke sagen zu den Pflanzen…“

„Darf ich dich streicheln?“, fragte Melody.
„Ganz vorsichtig, ja“, erlaubte ihr die Rose.
Zärtlich strich Melody mit ihren Fingern über die Blütenblätter der Rose. Über die Blätter am Stängel. Und dann tupfte sie mit ihrem Daumen ganz, ganz vorsichtig auf eine der Stacheln.
Das piekste!
„Weißt du, Melody“, sagte die Rose, „wenn man ganz lange ganz schnell rennt, dann ist man irgendwann erschöpft und braucht eine Pause.“
„Stimmt.“
„Und beim Denken ist das auch so. Die Menschen denken die ganze Zeit. Über die Zukunft. Über die Vergangenheit. Über dies. Und über das. Immer denken sie.“
„Ist das schlimm?“, fragte Melody.
„Nein“, lachte die Rose. „Das ist nicht schlimm. Aber vor lauter Denken vergisst man zu leben…“

Am Abend, vor dem Schlafengehen, probierte Melody nochmal dieses Meditieren aus.
Nur ein paar Minuten.
Und tatsächlich schlief sie schnell und friedlich ein.

Und ihr letzter Gedanke, bevor sie ins Land der Träume huschte, war:
„Danke, liebe Rose…“