Die Geschichten der Melody Moonchild – Story 2

Melody Moonchild & der traurige Nachbarsjunge

„He, schläfst du? Hallo, Faulpelz, aufwachen…!“
Melody Moonchild lag in ihre Decke gekuschelt. Ihr Plüsch-Einhorn Clara hielt sie fest in einer Hand.
Sie gähnte. Hatte da jemand gesprochen?
„He da, kleines Mädchen…! Aufwachen!“, wisperte die feine, helle Stimme.
Direkt in Melodys Ohr.
Melody öffnete vorsichtig ein Auge.
Dann riss sie beide Augen weit auf.
Vor ihr auf dem Kopfkissen saß ein kleines, wunderschönes Wesen mit Flügeln.
Es war nicht größer als das kleine Plüsch-Einhorn.
Aus seinen Flügeln blitzten lustige Sterne aus Licht.
Wie eine elegante, zauberische Dame sah sie aus.
Nur eben sehr klein.

„Wer bist du?“, fragte Melody schlaftrunken.
Draußen ging bereits die Sonne auf. Ihre Strahlen warfen warmes, oranges Licht in Melodys Zimmer.
„Na, eine Fee“, sagte die Fee keck. „Sieht man doch, oder?“
Melody glotzte die Fee verwirrt an. Gab es tatsächlich Feen? Oder war das ein Traum?
„Nee, kein Traum“, lächelte die Fee.
Als ob sie Melodys Gedanken lesen konnte.
„Komm‘ schnell, Melody. Wir müssen einem kleinen Jungen helfen“, sagte die Fee.
Sie schlug ihre Flügelchen aneinander.
Und ein kleines Wölkchen Feenstaub schwebte um sie herum.

„Einem Jungen?“, fragte Melody, die jetzt langsam wach wurde.
„Deinem Nachbarn“, antwortete die Fee ungeduldig. „Komm‘ jetzt…“
„Aber es ist doch Quarantäne-Dings, ich darf gar nicht raus“, sagte Melody.
Die Fee lachte.
„Kein Problem. Ich zaubere uns hin.“

Plötzlich war Melodys Zimmer voller Feenstaub.
Der Feenstaub wirbelte im Kreis.
Der Feenstaub glitzerte wie Tausend Sonnen.
Der Feenstaub hüllte Melody Moonchild ein.
Und dann verzog sich der Feenstaub. So als ob ihn ein unsichtbares Wesen weggepustet hätte.

Melody sah sich verwundert um:
Sie stand am Gartenzaun ihrer Nachbarn. Vor ihr schwirrte die Fee ungeduldig durch die Luft und zeigte mit ihrem klitzekleinen Zeigefingerchen auf einen kleinen Jungen: Melodys Nachbar Jonas. Ein Sechsjähriger, mit dem Melody noch nie gespielt hatte. Die Familie war erst letzte Woche hierher gezogen.
Jonas saß mit hängendem Kopf auf einer Schaukel. Weinte er etwa?
„Ja, er weint, der Arme“, wisperte die Fee, die wohl wirklich Gedanken lesen konnte.
„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte Melody und schaute die Fee neugierig an.
„Lass‘ dir was einfallen, Melody Moonchild“, lachte die Fee.
Dann war die Fee weg. Einfach so.

Melody atmete tief ein und aus.
Sie hatte immer noch ihr Plüsch-Einhorn Clara in der Hand. Das mit dem magischen lila Horn und den gelben Sternchen auf dem Rücken.
Melody schaute ihr Einhorn fragend an. Als ob es ihr antworten könnte.
Dann schaute sie zu Jonas und rief ihn.
„He, Jonas. He, du!“
Der kleine Junge, der Jonas hieß blickte auf. Betrachtete Melody aus der Entfernung.
„Komm‘ mal her, Jonas. Bitte“, rief Melody.
Jonas stand langsam von der Schaukel auf und trottete mit hängendem Kopf zu Melody hinüber.
Dann standen sich die beiden gegenüber.
Jonas auf der einen Seite des Gartenzauns.
Melody auf der anderen Seite.
„Ich bin Melody Moonchild“, sagte Melody.
Jonas sagte gar nichts.
Eine kleine Träne lief über sein Gesicht.
„Ich wohne nebenan“, sagte Melody.
Und wieder sagte Jonas nichts. Er schniefte nur ein wenig mit seiner Nase.
Melody wusste nicht, was sie sagen sollte. Wenn nur die Schnee-Eule hier wäre und ihr helfen könnte.
Aber dann erinnerte sie sich an den Zauberspruch aus ihrem letzten Abenteuer:

„Schuuuhuuu, Luzie-Lu, Schuuuhuuu“, flüsterte sie leise.

Und schon spürte Melody das Kribbeln im Herzen.
Und schon spürte Melody das warme Licht der Eule.
Das sie einhüllte wie eine Seifenblase aus Licht.
Und Jonas schien das magische Licht auch zu spüren.
Er schaute Melody mit großen Augen an.
Und lächelte sogar ein bisschen.
Melody lächelte Jonas an.
„Warum weinst du denn, kleiner Jonas?“, fragte sie ihn.
Jonas schniefte noch einmal.
„Na ja, dieses Quarantino-Dings… Quarontena…“
„Quarantäne“, half ihm Melody.
„Ja“, sagte Jonas. „Meine Eltern schauen den ganzen Tag Nachrichten. Und sie sagen, dass alles ganz schlimm ist. Und nichts gut wird…. Und…“

Dann fing Jonas wieder an zu weinen. Er schluchzte.
Seine Schultern zitterten.
Große, dicke Tränen liefen seine Wangen hinunter.
Was konnte Melody jetzt tun?
Die Fee war nicht mehr da. Sie konnte ihr jetzt nicht helfen.
Dann hatte Melody eine Idee!
Sie würde Jonas eine Geschichte erzählen.
Geschichten trösten, das wusste Melody. Ihr Papa erzählte ihr jede Nacht eine Geschichte. Und dann konnte sie prima einschlafen.

Melody hielt ihr kleines Plüsch-Einhorn hoch.
Jonas wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute Melody gespannt an.
Melody atmete tief ein. Sie hatte noch nie eine Geschichte erfunden.
Wie ging das denn?
Dann sah Melody aus dem Augenwinkel, wie ein klitzekleines Glitzersternchen hoch über ihr auf sie hinunterschwebte und auf ihren Lippen landete.
Und Melody begann zu erzählen.
Einfach so…

„ES WAR EINMAL ein kleines Einhorn.
Das hatte ein lila Horn.
Und es hatte kleine gelbe Sterne auf dem Rücken.
Es hieß Clara, das Einhorn.
Und es konnte zaubern.“

„Was konnte Clara denn zaubern?“, unterbrach Jonas.
„Na, sei geduldig“, lachte Melody.
Das Geschichtenerzählen gefiel Melody.
Und sie erzählte weiter…

„DAS KLEINE EINHORN namens Clara konnte etwas ganz Besonderes:
Nämlich: Angst wegzaubern!
Wenn es ein Kind sah, das weinte, dann schnupperte Clara kurz an seinem Herz.
Dann schnaubte sie
Und dann wieherte sie
Und dann rieb sie ihre Schnauze an dem Kind
Und saugte die Angst einfach raus.
Einfach so.“

„Einfach so?“, fragte Jonas.
„Einfach so“, sagte Melody.
„Und die Angst kam nicht mehr zurück?“
„In Tausend Jahren nicht“, lachte Melody.
Dann stupste sie mit ihrem kleinen Einhorn gegen Jonas‘ Brust. Dort, wo Jonas Herz war.
Und sie ließ ihr kleines Einhorn schnauben.
Und sie ließ ihr kleines Einhorn wiehern.
Und sie rieb die Schnauze des Einhorns gegen Jonas Hemd, bis er laut kicherte.
„Wow, die Angst ist weg“, lächelte Jonas.
„Sag‘ ich doch“, lächelte Melody Moonchild zurück.

Sehnsüchtig betrachtete Jonas das kleine Plüsch-Einhorn in Melodys Hand.
„Schenkst du mir dein Einhorn?“, fragte er schüchtern.
Sehr schüchtern.
Und ganz leise.
Melody schaute Jonas mit großen Augen an.
Ihr kleines Lieblingstier verschenken?
Mit dem sie schon als Baby eingeschlafen war?
Das sie getröstet hatte, all die Jahre, wenn sie traurig war?
Ohne dass sie vielleicht gar nicht einschlafen konnte?
Plötzlich saß die Fee vor Melody auf dem Gartenzaun und zwinkerte ihr zu.
Und Melody verstand. Auch ohne Worte.

Behutsam reichte sie Jonas ihr kleines Plüsch-Einhorn über den Zaun.
Jonas nahm das Einhorn vorsichtig und strahlte vor lauter Glück.
Und mit einem Mal war Melody erfüllt von Glück.

Sie sah die Freude in Jonas‘ Augen und das machte sie überglücklich.
Als ob Tausend Sonnen in ihrem Herzen scheinen würden.

Dann wirbelte eine Wolke glitzernder Feenstaub um sie herum auf und als sie wieder klar sehen konnte, saß sie in ihrem Bettchen zu Hause.
Nur einen Moment bevor Mama hereinkam, um sie aufzuwecken.
Und als Melody Moonchild zum Frühstück in die Küche kam, bemerkte sie ein paar klitzekleine Sternchen auf ihrer Schulter.
Feenstaub…

Und als sie ihren warmen Kakao ausgetrunken hatte, freute sie sich schon auf das nächste Abenteuer.