Die Geschichten von Melody Moonchild – Story 6

Melody Moonchild, der Baum & der Blitz

„Warum werden Menschen krank?“, fragte Melody Moonchild die Rose.
Die Rose schien Melody neugierig anzuschauen.
„Warum denkst du, dass man krank wird, liebe Melody?“, fragte sie sanft.
„Keine Ahnung. Vielleicht weil wir etwas falsch machen. Oder einfach Zufall?“
Die Rose lachte. In Melodys Gedanken natürlich.
„Krankheit ist keine Bestrafung, liebe Melody“, sagte die Rose. „Soll ich dir eine Geschichte über die Krankheit erzählen?“
„Ja, bitte“, freute sich Melody.
Es war wieder früh am Morgen. Melody hatte ihren dicken Bademantel über den Schlafanzug gezogen und saß im weichen Gras vor Mamas Rosengarten.
Ein paar frühe Vögel zwitscherten in den Ästen der Kastanie, und Melody liebte diese friedliche Frühmorgen-Stimmung.
„Es ist eine Geschichte aus dem Amazonas-Dschungel“, raunte die Rose geheimnisvoll.

„Au fein“, freute sich Melody und klatschte in die Hände.
Dann begann die Rose zu erzählen…:

„ES WAR EINMAL ein Baum. Ein schöner, großer Baum.
Seine vielen, dicken Äste hingen voll mit grünen, saftigen Blättern.
Und es hingen sehr viele süße Früchte an den Zweigen des Baumes.
Der Baum fand, dass er weit und breit der schönste Baum im Amazonas war.

Keiner der anderen hatte so viele Blätter und so viele Früchte.

Aber dieser Baum war so überladen – mit Früchten und Blättern – dass er schief wuchs.
Er wuchs nicht gerade nach oben wie die anderen Bäume.
Nein, er wuchs schief zur Seite.
Und seine Wurzeln konnten die Last des Baumes fast nicht mehr tragen.
Verzweifelt klammerten sich die Wurzeln ins Erdreich, um den Baum festzuhalten.
Aber der Baum war so stolz auf seine Blätter- und Früchtepracht, dass er gar nicht daran dachte, etwas an seiner Lage zu ändern.

Eines Nachts kam ein gewaltiges Gewitter auf.
Amazonas-Gewitter können sehr, sehr laut und sehr, sehr gewaltig sein.
Und glühende Blitze zuckten am Nachthimmel.
Und irgendwie schien dieser prächtige, schiefe Baum die Blitze anzuziehen.
Das Zentrum des Gewitters zog über den Dschungel und als es direkt über dem Baum schwebte, krachte der Donner laut wie ein ganzes Orchester.
Und ein glühendheller, heißer Blitz schoss herab.
Der Blitz zischte in die Krone des Baumes.
Fast hätte der Blitz den Baum entzwei gespalten und er wäre für immer verloren gewesen.
Aber der Blitz tötete den Baum nicht.
Dafür spaltete er Hunderte von Zweigen und Dutzende von Ästen.
Die Last der Blätter und Früchte fiel zu Boden und ein großer Teil der Pracht, auf die der Baum so stolz gewesen war, war verloren.

Das Gewitter zog vorüber, und der Baum lebte noch.
Er erholte sich schnell vom Schock der Nacht.
Aber er war sehr traurig.
Denn er hatte den größten Teil seiner Schönheit verloren.
Und er verfluchte den Blitz, der ihn heimgesucht hatte.
Aber nach einigen Wochen stellte der Baum fest, dass er sich aufrichtete.
Er wuchs wieder gerade nach oben. Wie die anderen Bäume.
Und seine Wurzeln konnten ihn endlich wieder sicher halten.

Und schließlich schickte der Baum einige liebevolle Gedanken zum Himmel.
Er bedankte sich beim Gewitter.
Er bedankte sich beim Blitz.
Denn er hatte verstanden, dass die Last der Blätter und Früchte ihn bald zu Boden gerissen hätten. Und er hätte sterben müssen…“

Die Rose schwieg, und die Gedanken wirbelten in Melodys Kopf umher wie ein Tornado.
„Die Indianer im Amazonas“, flüsterte die Rose schließlich, „sagen, dass der Blitz die Krankheit ist. Die uns gefährlich werden kann. Die uns aber helfen kann, wieder in Balance zu kommen.“
Melody nickte nachdenklich.
„Dann könnte dieses Quarantäne-Dings auch etwas Gutes sein?“, fragte sie schließlich.
Die Rose schien zu nicken.
„Kluges Kind. Wenn man daraus etwas lernt, dann ja.“
Melody streckte die Hand aus und streichelte die Blütenblätter der Rose.
„Danke, liebe Lehrerin“, wisperte sie.
„Danke, dass du zuhörst“, antwortete die Rose.

Die heutige Schulstunde mit ihrer Freundin, der Rose, beschäftigte Melody noch lange.
Und als sie beim Abendessen mit ihren Eltern über den Baum und den Blitz redete, staunten Mama und Papa nicht schlecht.
„Aber du willst doch jetzt nicht etwa krank werden?“, fragte Melodys Mama.
„Nein, Mama.“ Melody schob sich noch eine Gabel aufgerollte Spaghetti in den Mund.
„Aber wenn ich mal krank werde, dann werde ich versuchen, etwas zu lernen.“

————————————————————-

HABEN euch diese Geschichten inspiriert, vielleicht auch eigene Vorstellungen geweckt. Dann lädt euch Tatjana JETZT mit diesem Bild ein, eure eigene Geschichte zu kreieren!

Ach ja, gern könnt ihr natürlich auch zu den anderen Geschichten eure eigenen Bilder entwerfen. Was ist es, was euch darin besonders gefallen hat, was ihr zu Papier bringen möchtet. Viel Spass dabei!